Der Karner in Mödling - Eine Meditation

Text von Prälat Wilhelm Müller

Der Karner in Mödling

Die Mauern des Karners bilden einen Kreis.
Der Kreis ist die einfachste und zugleich vollkommenste Figur.
Es gibt kein oben und kein unten.
Nichts ist größer. Nichts ist kleiner.
Es gibt kein Voreinander und kein Nacheinander.

So wird der Kreis des Karners zum Trost.
Vor Gott haben alle gleiche Würde und gleiche Bedeutung.
Vor ihm zählt nicht, ob einer Mann oder Frau ist, Priester oder Laie, Afrikaner, Asiate oder Europäer.
Jeder hat seinen Platz vor Gott.
Keiner kann den anderen ersetzen.

Der Kreis ist nicht etwas, das unbeweglich in sich ruht.
Der Kreis hat eine Mitte, um die er dynamisch kreist.
Punkte auf der Kreislinie haben zueinander verschiedene Entfernungen.
Von der Mitte des Kreises sind sie alle gleich weit entfernt.

Auf der Kreislinie der Zeit gibt es verschiedene Entfernungen.
Da gibt es Gestern, Heute, Morgen.
Vom Kreismittelpunkt sind die Gestrigen, die Heutigen und die Morgigen gleich weit entfernt.
Der Kreismittelpunkt kennt kein Gestern, Heute, Morgen. Für ihn ist alles jetzt.
In dieses Jetzt treten wir, wenn wir in den Kreis treten, den die Mauern des Karners bilden.


Der Karner in Mödling

Acht Meter misst der Karner im Durchmesser.
Acht Meter geht er in die Tiefe.
Acht Meter ist sein Innenraum hoch.

Acht ist eine besondere Zahl.
Die Woche hat sieben Tage. Mit dem achten Tag beginnt etwas Neues.
Der achte Tag ist der Tag, der keinen Abend kennt.
Er ist der endgültige Tag.
Er ist der Tag der Auferstehung.
So wird der achte Tag zum Zeichen für das ganz Neue, das für den Menschen und die Welt mit der Auferstehung Jesu beginnt.
Mit dem achten Tag beginnt die Zeit, die Leben und Tod in Gottes Ewigkeit münden lässt.

Acht Meter misst der Karner im Durchmesser.
Acht Meter geht er in die Tiefe.
Acht Meter ist seine Höhe.
Wer den Karner betritt, wessen Gebeine in ihm ruhen, soll wissen, dass der achte Tag seine Zukunft ist.

Der achte Tag umfängt uns, wenn wir in den Kreis treten, den die Mauern des Karners bilden.


Fresko im Karner: Weltgericht

Der achte Tag hat seinen Preis.
Undeutlich schimmern links vom Triumphbogen Farben.
Was zeigen sie? Was verbergen sie?
Das, was vor dem achten Tag auf uns wartet?
Zeigen sie das Martyrium des heiligen Pantaleon?
Zeigen sie das jüngste Gericht?

Pantaleon, der Arzt, ist einer der vierzehn Nothelfer.
Pant-eleemon - Allerbarmer nannte ihen eine Stimme vom Himmel, als er an einen Ölbaum gefesselt, die Hände auf den Kopf genagelt, vor seiner Enthauptung für seine Mörder Gottes Barmherzigkeit erflehte.
Pantaleon lebte schon am achten Tag.

Oder zeigen die blassen Farben den Pantokrator, der zum Gericht erscheint?
Zeigen sie ihn, mit dem das ewige Jetzt anbricht?
Ihn, mit dessen Ankunft zu Ende geht was vergänglich war, damit das Unvergängliche durchbrechen kann?


Wir erwarten den achten Tag.
Unser jetzt kennt das Leid und die Sehnsucht.
Es lebt von der Enttäuschung und von der Hoffnung.
Es kennt Gefahr und Geborgenheit, Sieg und Niederlage, Bedrohung und Rettung.
An den Wänden des Karners ist einiges davon abzulesen.


Ehem. Tür zur Loggia

Die Decke lag früher tiefer.
Ansätze lassen erkennen, wo das Gewölbe aufgelegen ist.
Der Wehrturm war zu nieder. Er musste erhöht werden.
An einem Fenster erkennt man noch die ursprüngliche Größe - groß genug, um Licht zu bekommen, groß genug, um als Schießscharte verwendet zu werden, klein genug, um Feinden das Eindringen zu verwehren, klein genug, um Sicherheit zu geben und sich verteidigen zu können.
Über dem Tor ist der Ausstieg auf die Loggia zu sehen.
Auf ihr hat sich der Herzog gezeigt.
Sie hat aber auch geholfen, den Eingang zu verteidigen.


Fresko im Karner: Die Kreuzigung

Der achte Tag, in den uns das Rund des Karners aufnimmt, hat seinen Preis.
Das Fresko rechts vom Triumphbogen zeigt, welchen.
Auf braunrotem Holz hängt Christus.
Frauen und Männer umstehen den Gekreuzigten.
Es ist seine Mutter.
Es sind die Frauen, die ihm gefolgt sind.
Es ist der Jünger, den Jesus liebte.
Es ist der Hauptmann, der feststellt: Er ist wirklich Gottes Sohn.
Unübersehbar ist das Spruchband mit seinem Bekenntnis.
Dahinter steht der Soldat, der ihm mit der Lanze das Herz geöffnet hat.

Zu Füßen des Gekreuzigten kniet eine kleine Frau.
Es ist die Stifterin des Bildes.
Es ist Gertrud, die Nichte Friedrichs des Streitbaren.
Wenn sie sich klein und unscheinbar zu Füßen des Gekreuzigten hinmalen lässt, zeigt sie uns, dass der Tote von Jerusalem sie etwas angeht.
Sein Tod berifft sie.
Er betrifft die Menschen, die um das Kreuz stehen.
Er betrifft die, die vor dem Kreuz stehen.
Der Tote von Jerusalem ist jedem von uns so fern oder so nahe, wie die Punkte auf der Kreislinie dem Kreismittelpunkt fern und nahe sind.

Die Konturen verschwimmen.
Die Farben werden blass.
Die Konturen des Glaubens verschwimmen bei vielen.
Die Farben, die ihr Leben bestimmt haben, verlieren ihre Leuchkraft.
Was werden die kommenden Generationen sehen?
Werden sie die Spuren noch deuten können?
Werden sie erkennen, dass es einen achten Tag gibt?


Altar

Das Rund des Karners öffnte sich in das Halbrund der Apsis.
Gott, der Mensch wird, der sich entäußert, teilt seine Fülle mit den Menschen.
Er hebt unsere Geschöpflichkeit in eine Vollendung, die nur er geben kann.

Bindeglied der beiden Welten ist der Altar.
Auf zwei starken Schäften ruht eine Steinplatte.
Das Alte und das Neue Testament halten die Platte im Gleichgewicht.
Miteinander trage sie Jesus Christus.
Er ist die Hoffnung des Alten und die Erfahrung des Neuen Bundes.
Er verbindet, die einander jahrhundertelang feindlich gegenüber standen.
Die Besinnung auf ihn kann Neues schaffen, Feindschaften aufheben und Frieden stiften.

Fresko im Karner: Maria mit Kind

Aus dem Halbrund der Apsis leuchtet das Bild Mariens.
Maria sitzt auf einem polsterähnlichen Thron.
Gekleidet ist sie in den Purpur der Kaiser.
Mit der Rechten hält sie ihr Kind, das sich segnend den Weisen zuwendet, die ihre Gaben bringen.
Das segnende Kind steht so, dass sein Körper ein Kreuz bildet.
Kommmen Segen und Glück vom Kreuz?

Maria hält etwas Rundes in der Hand.
Ist es ein Apfel für das Kind?
Ein Ball zum Spielen?
Oder ist es eine Orange, Erinnerung an die oströmische Kaisertochter Theodora, die Mutter von Herzog Heinrich?

Das Kind fasst die Mutter am Kinn, als wollte es ihren Kopf zu den Weisen drehen.
Soll sie auf die schauen, die Gottes Zeichen sehen, die aufbrechen und suchen und finden?
Soll sie ihr Gesicht denen zuwenden, die auf der Wanderschaft zum König sind, den die Sterne verkünden?


Fresko im Karner: Hl. Drei Könige

Die Übertragung der Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln hat eine ungeheure Verehrungswelle ausgelöst.
Man sah in den Weisen die Repräsentanten der Menschheit.
Sie galten als Nachkommen der drei Söhne Noachs.
Sie standen für die derei Erdteile, die man damals kannte - Afrika, Asien und Europa.
Man sah in ihnen auch die Altersstufen des Menschen, den Jungen, den Erwachsenen, den Alten.

Will der Sohn den Blick der Mutter auf alle Menschen richten?
Soll sie ihr Augenmerk allen Generationen zuwenden?
Soll sie kein Volk, keinen Erdteil übersehen?
Wenn er ihr Gesicht zu den Weisen wendet, will er aufmerksam machen, dass sie, weil sie seine Mutter ist, Mutter aller Menschen ist?

Fresko im Karner: Heinrich und Richza

Zur Rechten Mariens stehen die Weisen.
Zu ihrer Linken stehen Heinrich der Ältere und seine Frau Richza, die Tochter des böhmischen Königs Wladislaw II.
Sie sind die Stifter des Bildes.
Wie die Weisen die ganze Menscheit repräsentieren, repräsentieren sie das Volk, das im Bann der Burg Mödling lebt.
Sie alle wollen unter dem Schutz Mariens stehen, jetzt und in der Stunde des Todes.


Der Karner in Mödling

Acht Meter misst der Karner im Durchmesser.
Acht Meter geht er in die Tiefe.
Acht Meter ist seine Innenhöhe.
Acht ist eine besondere Zahl.
Der achte Tag ist der Tag, der keinen Abend kennt.
Mit dem achten Tag beginnt die Zeit, die Ewigkeit ist.
Der achte Tag umfängt uns, wenn wir in den Kreis treten, den die Mauern des Karners bilden.

Die Mauern des Karners bilden einen Kreis. Der Kreis ist eine Linie, die um eine Mitte kreist. Die Mitte kennt kein Gestern, kein Heute, kein Morgen. Sie ist das Jetzt. In dieses Jetzt tritt, wer in den Kreis tritt, den die Mauern des Karners bilden.

In den Fresken leuchtet uns die Verheißung entgegen, dass wir bei dem geborgen sind, dessen Kreuz uns zum Segen wurde und dessen Mutter auf uns schaut.

Der Karner in Mödling: Apsis

aktualisiert am 17-Mar-2022
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