Kunst im Karner - 16. - 30. Sept. 2006 - LEBEN(s)GESTALTEN
Martin Krammer - Skulpturen / Christian Hart - Klanginstallation

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Lesung Margareta Mirwald

Feuer - Dys Evro - Ossa

Gedanken zur Lesung

"Ossa", Lesung Margareta Mirwald mit Live-Musik Michael Fischer & Christian Hart © Kunst im Karner - St. Othmar
Feuer

Das Kind war zuviel.
Es war frech, vorlaut und aufsässig. Es zerstörte die kunstvollen Burgen aus Matador, die der ältere Bruder gebaut hatte und sprang zweimal aus dem Fenster, bloß weil es sehen wollte, was unten auf der Straße vor sich ging.
Eines Tages nahm die Mutter das Kind an die Hand und ging mit ihm zum Haus der Hexe. Beide schwiegen. Die Mutter aus Zorn, das Kind aus Angst.
" Wen bringst Du mir denn? " grummelte die Hexe.
" Meine Tochter, " sagte die Mutter.
" Und warum bringst Du mir Deine Tochter? " fragte die Hexe. Jetzt erst erhob sie sich und machte ein paar Schritte auf die beiden zu.
" Sie ist so schlimm und niemand kann mehr mit ihr zurechtkommen. " seufzte die Mutter und das Mädchen bedauerte die Mutter, weil sie soviel leiden musste.
" Und was soll ich mit ihr machen? " fragte die Alte.
" Du kannst sie in den Wald schicken oder in den Ofen stecken ... " antwortete die Mutter.
...
Die Hexe ging mit der Mutter noch bis zum kleinen Gartentor und wandte sich dann an das Mädchen: " Wie heißt Du, Kleine? "
" Ich heiße: Das Kind, das niemand haben wollte, " antwortete das Mädchen, " Ja, so heiße ich. "
" Gut, dann werde ich Dich auch so nennen. "
...
" Aber wenn ein Kind - sagen wir - ganz ausnahmsweise einmal spielen will - was machst Du dann?" Das Mädchen ließ sich nicht leicht von seinen Gedanken abbringen.
" Ja, dann - dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich hinzusetzen und dem Kind eine Geschichte zu erzählen. " antwortete die Hexe.
...
Die alte Frau und das Mädchen saßen eng aneinander geschmiegt vor dem Feuer und ihre Hände machten die Bewegungen der Flammen nach. Immer wieder fanden sich ihre Hände, berührten einander und lösten sich. Dann lachten beide. Das Kind aus Wärme und die Alte aus Zärtlichkeit.
...
" Du Hexe," begann das Mädchen von neuem, " ich bin schon so müde. "
" Ich weiß " lächelte die Hexe, " Das kommt vom Tanzen. " Sie ist gar nicht so hässlich, dachte das Kind und legte seine Schulter an ihre Brust. Es tat ihm gut, seine Angst in diesen weichen Stoff einzuhüllen.
Und um zeigen, dass es ernst meinte mit seinen Gedanken, setzte es hinzu: " Jetzt fürchte ich mich nicht mehr"
...
" Wirst Du sehr traurig sein, wenn ich tot bin? " fragte das Kind.
" Nein, " sagte sie, doch dann verbesserte sie sich: " Ein wenig am Anfang, aber später - ?"
Das Kind, das niemand haben wollte, schmiegte seinen Kopf in die Halsbeuge der Alten, umschlang den welken Körper mit seinen warmen Händen und zog seine Beine enger sich.
...
Am nächsten Morgen, als das Kind sein Gesicht in einem Spiegel betrachtete und all die Linien und Kreise sah, die die Hexe während der Nacht auf ihr Gesicht geschwärzt hatte, lächelte es und sagte: " Aber Hexe, ich sehe ja uralt aus! "
" Das ist es ja - was alles so schwierig macht." Jetzt erst bemerkte das Mädchen, wie erschöpft die alte Frau aussah.
" Und jetzt - was muss ich jetzt tun, Hexe?"
Die Frau machte die Tür einen Spalt breit auf, schob das Kind die paar Schritte über die Schwelle und sagte: " Spielen. Du wirst all die Masken spielen müssen. "
" Tut das weh - das Spielen? " fragte das Kind.
"Am Anfang vielleicht, später nicht -

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Dys Evro

Während der Hochsaison fährt er achtmal pro Tag, bei Bedarf auch öfter, im Mai und September nur viermal - mehr zahle sich nicht aus.
Um 9h30 ist die erste Abfahrt, die letzte Rückkehr um 19h30, aber so genau nehme er es gar nicht, wenn genügend Passagiere da seien, dann fahre er auch mal zwischendurch.
...
Der ferryman deutet uns geduldig zu warten, bis alle draußen sind, dann macht er eine kleine Handbewegung - wir können an Bord - und teilt uns unsere Plätze zu, die Kinder vorne, die Erwachsenen eher am Heck wegen des Gewichts, obwohl - heute sei der Wellengang sehr ruhig, nicht so wie vorgestern, vorgestern war es rougher - hier spricht man ein Kauderwelsch von englisch und griechisch, er verstehe das Wichtigste von transfer, stormy, no danger, keep quiet und nausea - but this is a greek word - nausea - die Seekrankheit, No nausea, here no, ochi. He is a very experienced ferryman - ich beobachte ihn durch die Sonnenbrille - hager, gutmütig, die Wogen am Meer entsprechen denen in seinem Gesicht - nur dass er bisweilen lächelt, wenn er das Steuerruder nimmt.
...
Die Freundin des jungen Mannes wendet den Kopf und legt drei Euro in die kleine Kassa für ein Cola. Sie bietet ihrem Begleiter an, davon zu trinken, er lehnt ab. Der ältere Begleiter der jungen Frau mit dem Spiegel bekommt einen Anruf per Handy - er versteht den Anrufer nicht, er beginnt lauter zu sprechen und zu gestikulieren, Zahlen werden genannt, eine Uhrzeit, Zahlen und ich verstehe das Wort Prozent. Der Ferryman lächelt - bei der nächsten Welle muss er von vorne anfangen, nach der Klippe beginnt eine kurze Strecke über das offene Meer, sodass er wegen des Windes noch weniger verstehen kann. Erschöpft dreht er sein Telefon ab.
...
Die Erinnerungen bleiben am Festland zurück. Jetzt hat sich auch die Kuppel der Kirche verabschiedet. Weiter draußen sonnen sich einige Segelboote. Die Kinder haben ihre Kekse ausgepackt und verzehren sie bröselreich. Der ältere Mann legt seinen rechten Arm um die Schulter seiner Begleiterin, sie lächelt und setzt sich die Sonnenbrille auf. Der jüngere Mann lächelt dem Meer zu.
...
Wir klettern aus dem Boot, balancieren über den kleinen Steg und verabschieden uns mit einem polyglotten bye bye.
...
Ich gehe zu dem Kieselstrand und bin einen Moment lang unschlüssig -habe ich mir so das Ankommen vorgestellt? Das klare Wasser leckt die sorgsam aufgereihten Steine. Meine Füße hinterlassen kaum einen Abdruck, so als hätten sie nie den Boden berührt - als ginge ich über den Strand, ohne Spur ohne Erinnerung. Ich setze mich in den Schatten eines breit mächtigen Baumes und lehne die Wange an seine rissige Rinde. Das Fährboot hat schon längst abgelegt und steuert nun an den Klippen vorbei, die dem Festland vorgelagert sind.
...
Ich erkenne den Schritt. Es ist die ältere Schwester meiner Mutter. An der Hand führt sie ein Kind, seine blonden Haare schimmern im Sonnenlicht. Die beiden kommen zielstrebig zu mir.
...
Ich habe so viele Fragen im Kopf, aber ich finde sie nicht im Mund. Er bleibt in Entfernung einiger Meter vor mir stehen und sagt das erste Wort, das ich aus seinem Mund gehört habe. Mama.

Meine Tante legt den Arm um mich und fragt: "Wie viel kostet jetzt die Überfuhr?" -

"Zwei Euro" antworte ich " nur zwei Euro!" - "Das ist gar nicht teuer" meint sie.
"Nein" sage ich " Überhaupt nicht!".

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Ossa

Jjing jjing krrck krschscht iehh iejh ckrrck ckrscht
hjm ijöh dhjem dhjam rsst rressd ijhöh
dhjmh djuhm jhum dhjeh ma miyh shsdh shhödh
rrhat rrhat sejk sstant ruih no sassh
phry kt kth io jioh semisepulta virum osh aah
dhij barbarae herba domos segh segh occulit
(freier Rhythmus)

Diruta sunt aliis, uni mihi Pergama restant,
incola captivo quae bove Victor arat.
Iam seges est, ubi Troia fuit, resecandaque falce
luxuriat Phrygio sanguine pinguis humus:
Semisepulta virum curvis feriuntur aratris
ossa, ruinosas occulit herba domos.
(im Hexameter zu lesen)

Medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata. Adiacebant fragmina telorum equorumque artus, simul truncis arborum antefixa ora. Lucis propinquis barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant.

hoste oppresso laniando ora maceratis manibus dentibus luxuriare humus superiecta ossa fragore plangit vulnera semisepulta in humo latente albentia ossa Victor abit Victor abit Victor abest plangore pressi bovibus sub iugo gemuere scripsit ante ora in arboribus pendentia clamaverunt victor abest victima pendent mortua sempiterna gement homines vocant poeta audivit nec tacuit in aeternum scripsit schreibt für ewig knochen zerstören die neue pflugschar, noch nicht genug vermodert, ...
superiecta in humo humiliter iacet übersetzen dem vergessen acheron fragen spricht welche sprache acheron versteht er deutsch alle mienen deuten münzen geben ins wasser starren acheron fragen gesichter mitnehmen für später zum wiedererkennen gesichter stehlen münder stehlen wegreißen den toten knochen zerstören pflugschar besichtigungstermin ausmachen schlachtfeld ansehen erschaudern frösteln sich abwenden vertere in lucem manibus inutilibus animo inutili ore inutili ...
hört nicht auf zu schreien die mauern lassen platz für schreie besucher frösteln das feld ist nun grün
neuer regen wäscht alte schuld fort hinein in den fluss hoffen auf vergessen mauern restant pflugscharen werden von den kaum gebleichten knochen zermahlen neue pflugscharen braucht das land die erde ist großzügig sie vergibt das wasser nie das wasser ist männlich unverzeihlich und hart die erde birgt vergibt macht weich und bereit sie lacht über eure angst bietet platz wellt sich im zweifel die augen bleiben leer die münder offen der schrei wird nur mehr sehbar kein sichtbares zeichen mehr der verfäulnis die erinnerung ist wie die erde sie vergibt sie macht weich und duldsam streicht über spitzen hinweg glättet mit rauer hand und schiebt zweifel beiseite erinnerungen sind ein gutes land brauchen keine pflugschar zermalmen keine knochen schieben knochen zusammen lächelnd im dunklen wenn leute gegangen sind hominibus praetereuntibus memoria crescit flores augebit memoria reminiscentes ad risum vocat albentia ossa ridentes complexa in aeternum poetae sciunt.

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Gedanken zur Lesung:

"Ossa", Lesung Margareta Mirwald mit Live-Musik Michael Fischer & Christian Hart © Kunst im Karner - St. OthmarDie Gestaltung ist nur grob konzipiert, wichtig ist bei der Darbietung das spontane Schaffen und die Fähigkeit aufeinander zu horchen und eben zusammenzuarbeiten. Keiner weiß, was der andere als nächstes sagt oder spielt, sowie in einem Improvisationstheater.

An sich in diese Form der Darbietung eine sehr alte fast archaische Form der Erzähltradition - nur der Inhalt steht fest und die Wahl der Instrumente. Die Darbietung ist daher nicht reproduzierbar.

Wahrscheinlich wird es so sein, dass ein Text ohne Musikbegleitung gelesen wird, dann sind Text und Musik gleichbedeutend und synchron, also so wie eine polyphone Musik, in der jede Stimme für sich existieren kann.

Ein wichtiger Schritt um das fertig zu bringen ist z.B. die Einstimmung des Atmes der Mitwirkenden - es muss sozusagen ein harmonischer Rhythmus geschaffen werden, sowie wie man die Geige stimmt - man muss sich abstimmen und einstimmen auf den anderen.

Es ist eine sehr aufwendige Technik und verlangt auch vom Zuhörer einige Disziplin, da Sprache gleichzeitig mit Musik eindringlicher und verletzender wirkt als ohne. Gegen Worte kann man sich verschließen, gegen Musik nicht.

Für mich persönlich: Der Laut My wie in mythos etc. bedeutet wirklich nur Laut/laut - also ein Schmerzenslaut der aus der Bauchhöhle dringt bei gepressten Lippen ( das ist tatsächlich die etymologische Erklärung für den Begriff mythos) und genau das wollen wir versuchen - Schmerzen werden laut in gebundener Form. Ein ähnlicher Begriff ist das deutsche Wort

ER - INN ERUNG - etwas das drinnen war kommt heraus.

(Margareta Mirwald)

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